Das wahre Selbst

In Umfragen zeigt sich, dass Menschen aus dem abendländischen Kulturkreis eine recht homogene Vorstellung vom „Wahren Selbst“ haben, nämlich von einer Art Kern-Essenz in ihrem Inneren, die mehr oder weniger unveränderbar das einzelne menschliche Leben überdauert. In der Persönlichkeitsforschung entspräche das dem Temperament (als dem angeborenen und unveränderlichen Teil der eigenen Persönlichkeit) im Gegensatz zum Charakter (als dem erworbenen und damit im Laufe des Lebens veränderbaren Teil der Persönlichkeit). Dem „Charakter“ entspräche dann das sogenannte „Falsche Selbst“, welches genauso wichtig ist wie das „Wahre Selbst“, da es dem Selbst ermöglicht, sich überlebensnotwendig an die jeweilige Umgebung anzupassen. 

Die Vorstellung eines unveränderbaren Kerns in der eigenen Persönlichkeit, also die Vorstellung davon, es gäbe etwas im eigenen Inneren, das das „Eigene“ und „Unverwechselbare“ ausmache, ist eine abendländisch geprägte Vorstellung, die bis zur Vorstellung der Existenz einer Seele reicht (Seele als Kern des wahren Selbst, welche selbst der Tod nicht zerstört). Das fernöstliche Denken ist im Gegensatz dazu von dem allem zugrunde liegenden „Naturgesetz“ des „Beständigen Wandels“ geprägt, welches im Buddhismus seine stärkste Ausprägung erfahren hat, indem Buddha sogar eine Seele (Sanskrit: Atman) verneint. 

Viele Menschen, die psychisch erkrankt sind, beschreiben, dass sie ihr wahres Selbst entweder verloren haben oder zu diesem wahren Selbst noch nie Zugang gehabt hätten – über längere Zeit ist dieser Zustand für Menschen schwer zu ertragen, da die Sinnhaftigkeit und Lebenswertigkeit des individuellen Lebens verloren gehen. Das Gefühl, keinen Zugriff zum eigenen wahren Selbst zu haben, geht zumeist mit Schwierigkeiten im Umgang mit eigenen Gefühlen, dem eigenen Körper und mit Bindungen zu anderen Menschen einher. In diesen Fällen kann eine Psychotherapie, insbesondere eine psychodynamisch-psychoanalytische Psychotherapie, sehr hilfreich sein.